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25. Mai 2012 / 01:58 Uhr

Warum die EU vom Weg abgekommen ist

"Die Europäische Union ist in rasend schnellem Tempo dabei, ihre Legitimität bei der Bevölkerung zu verlieren, und das sicher nicht nur in Athen", so führte es vor kurzem mein EU-Parlamentarierkollege Ivo Belet von der Partei "Christlich-Demokratisch und Flämisch" (CD&V) gegenüber der belgischen Tageszeitung De Standaard aus. Das einzige Mittel, das die EU dagegen kennt, besteht darin, den bisherigen Kurs in verstärktem Maße fortzusetzen: noch mehr EU-Einmischung und noch mehr Geld-Überweisungen von Norden nach Süden sollen das Blatt noch wenden. Doch genau das Gegenteil wäre notwendig: die Achtung des Volkswillens in den (künftigen) Mitgliedstaaten und eine grundlegende Neustrukturierung der EU nach dem Motto "Einheit in Vielfalt". Meine Gegendarstellung wurde zwar der Zeitung De Standaard für die als Gastkommentar angeboten, eine Veröffentlichung wurde jedoch prompt verweigert: In flämischen Medien gibt es also nach wie vor keinen Platz für eurokritische Stimmen. Unzensuriert.at hat aus dem Flämischen übersetzt.

Gastkommentar von Philip Claeys

Während der Euro in den Fugen kracht und Parteien, die für die nationale Souveränität stehen, in ganz Europa Zugewinne verzeichnen (und zwar sowohl auf der rechten wie auch auf der linken Seite), scheint bei den traditionellen politischen Kräften die Panik ausgebrochen zu sein. Karel De Gucht, ehemaliger belgischer Außenminister und nunmehriges EU-Kommissionsmitglied, spricht von einem "Ende der Zivilisation", wenn Griechenland aus dem Euro aussteigt – was die Frage aufwirft, wie die Griechen eigentlich vor der Einführung des Euro gelebt haben. Und Ivo Belet (CD&V) sieht sogar einen "bewaffneten Konflikt an der südöstlichen Flanke der EU" im Entstehen.

Warum diese Panik? Die Antwort wurde vielleicht von der Liberalen Fraktion von Guy Verhofstadt gegeben, die in dieser Woche eine Annonce in der Zeitung European Voice veröffentlichte. Die Kernaussage der Annonce lautete: "Europa muss zusammenhalten oder aber der Nationalismus wird wieder auf den Kontinent zurückkehren." Die EU und der Euro müssen daher unverändert weiterbestehen, sonst wird "der Nationalismus wieder zurückkehren"!

Antinationalistische EU ist Fehlkonstruktion

In den Augen der Liberalen, Christdemokraten und Sozialisten sind die EU und im weiteren Sinne der Euro ein antinationalistisches Projekt. Genau in dieser Fehlkonstruktion liegt auch die Ursache für die aktuelle Malaise. Die EU war nämlich am Anfang alles andere als ein antinationales Projekt; die EU war viel eher ein Projekt, das vom Respekt für die kulturelle Identität der Mitgliedstaaten ausging, um deren wirtschaftliche Integration und damit auch deren friedliche Zusammenarbeit zu ermöglichen. Vor den Amtsgebäuden der EU flattern daher traditionellerweise nicht nur die EU-Flagge, sondern die Flaggen aller Mitgliedstaaten. "Einheit in Vielfalt" – so steht es noch immer auf dem Briefpapier des Europäischen Parlaments. Das erklärt wohl auch, warum das EU-Projekt traditionell in der flämischen Bewegung mit starker Unterstützung und Sympathie rechnen konnte. Die EU wurde als Partnerschaft gesehen, welche die nationalen Identitäten respektiert, im Gegensatz zum zentralistischen Belgien, das immer versuchte, die flämische Identität zugunsten eines französischsprachigen Einheitsstaates zu verwischen.

68er-Veteranten verschoben den Schwerpunkt

Sobald aber die Veteranen des Mai '68 zu politischen Positionen aufgestiegen waren, begann sich etwas zu verschieben. Irgendwann Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre begann es damit, dass antinationalistische Agenden den Ton angaben. Nationalstaaten und Staatsgrenzen waren "passé" und es sollte stattdessen zu einer "immer engeren Integration" kommen. Die EU bekümmerte sich fortan nicht mehr allein um ihre wirtschaftlichen Kernaktivitäten, sondern um alles: Sozialpolitik, Arbeitsmarkt, Recht, Bildung, Außenpolitik. Das Wegfegen der Binnengrenzen mit dem Schengener Abkommen und der Einführung des Euro als Einheitswährung ließen dann das politische Ziel am Horizont erscheinen: den europäischen Superstaat als supranationaler "Bundesstaat" anstelle des "Staatenbundes" souveräner Einzelstaaten.

Diese grundlegende Veränderung im Kurs und in der Ausgestaltung der EU besaß zu keinem Zeitpunkt eine demokratische Legitimierung. Die traditionellen politischen Kräfte erhielten deswegen auch bereits zwei deutliche Ohrfeigen: Die Europäische Verfassung wurde am 29. Mai 2005 in Frankreich und am 1. Juni 2005 in den Niederlanden von den Wählern massiv abgelehnt. Diese beiden Daten sind Meilensteine des demokratischen Widerstands der Bevölkerung gegen den Kurswechsel der EU in Richtung eines antinationalen Projekts. Dennoch wurde dieser Kurs unvermindert fortgesetzt, indem man aus der Europäischen Verfassung einen unlesbaren Brei machte und sie unter dem Titel "Vertrag von Lissabon" den Bürgern neuerlich aufdrängte, wozu es zweier Referenden in Irland bedurfte (die Wiederholung war erforderlich, nachdem die Wähler beim erstenmal "falsch" gestimmt hatten).

Euro war kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Projekt

Die Krönung des neuen Kurses war die Einführung der Einheitswährung, sozusagen das "Sahnehäubchen auf der Torte" nach der Einführung jener unsäglichen Schengen-Zone, die das Immigrationsproblem in weiten Teilen der EU unüberschaubar gemacht hat. Denn der Euro – und das wird jetzt von den traditionellen Politikern auch zugegeben – war nicht so sehr ein wirtschaftliches, sondern ein politisches Projekt, um die "immer engere Integration" zu beschleunigen.

Das Zusammenwürfeln von total unterschiedlichen Volkswirtschaften, den sparsamen im Norden Europas mit den vom allgegenwärtigen Klientelismus geprägten im Süden des Kontinents, war wahrscheinlich der größte Fehler, der jemals begangen werden konnte. Die EU wurde somit umgeformt und es entstand daraus so etwas wie Belgien im großen Stil. Ivo Belet erklärte, dass der Norden noch massiver für den Süden zahlen soll, dass aber der Süden seine finanziellen Haushalte "besser in Ordnung bringen müsse". Könnte Herr Belet uns vielleicht erklären, welche Erfahrungen seine Partei, die ehemalige CVP und nunmehrige CD&V, damit gemacht hat, wie Wallonien, also der Süden des kleinen Belgiens, seinen Haushalt in Ordnung brachte, während der Norden, also Flandern, in den vergangenen 150 Jahren alle Rechnungen bezahlte? Richtig. Solange ein Quartalsäufer an der Bar seine Getränke gratis bekommt, stehen die Chancen, dass er zu den "Anonymen Alkoholikern" geht, eher gering.

Nettozahler sind Deutsche, Holländer, Flamen

Es ist übrigens falsch anzunehmen, dass diese Entwicklung nur "zu Zähneknirschen in Berlin" führen wird. Sie wird sicherlich ebenso zu Zähneknirschen in Den Haag führen, denn genauso wie die Deutschen sind auch die Holländer mittlerweile zu Groß-Financiers für den südlichen Schuldenberg geworden. Zu Ärger wird diese Entwicklung auch in Brüssel führen, denn Belgien ist ebenfalls einer der größten Nettozahler in der EU. Und da wir wissen, wer die Staatskasse in Belgien anfüllt, wissen wir auch, welcher Teil von Belgien davon am stärksten betroffen ist.

Ist die EU also dazu verdammt, zwischen zwei Übeln zu wählen: dem Totalausfall oder aber mit lautem Hornsignal weiter gegen die Stürme zu fahren, das heißt in Richtung "mehr Europa"? Nein, es gibt eine dritte Option, nämlich neuerlich anzusetzen bei der grundlegenden Philosophie, mit der die EU ursprünglich aufgebaut worden war. Die Nationalstaaten und Identitäten sind nämlich nicht die Feinde der EU, sondern die Bausteine, mit denen eine freiwillige Zusammenarbeit errichtet werden kann.

Zurück zu den Wurzeln und Kernaufgaben!

Kehren wir zurück zu den Wurzeln und begrenzen wir die EU auf ihre Kernaufgaben: wirtschaftliche Zusammenarbeit, Beseitigung von Handelsbarrieren, Vereinbarungen wo notwendig und wünschenswert. Ferner gründliche Einschnitte bei der Vergeudung, die den EU-Bürgern zu Recht widerwärtig ist: ein einziger Tagungsort für das Parlament, Lohnkürzungen bei allen Amtsinhabern, Baustopp für Protzpaläste wie etwa der Amtssitz für einen nicht gewählten "Präsidenten", Einschränkung des endlosen Netzwerkes an Agenturen und Beamten, usw.

Vor allem sollten wir aber auf den demokratischen Willen des Volkes hören. Der beste Plan, der in den letzten Jahren auf den Tisch gelegt und von den traditionellen politischen Kräften in der gesamten EU binnen 24 Stunden vom Tisch gefegt wurde, war der Plan des ehemaligen griechischen Ministerpräsidenten vom November 2011. Sein Inhalt: Fragen wir doch die Griechen in einer Volksabstimmung, ob sie immer noch Teil der Eurozone sein wollen. Wenn sie es wollen, dann ist weitere Hilfe dann möglich, wenn zuvor die notwendigen Reformen umgesetzt werden. Wenn nicht, erhalten sie eine Verabschiedung mit allen Ehren und die Chance, ihre eigenen Probleme selber anzupacken.

Griechen stimmen für die nationale Souveränität

Solange aber den Griechen von Brüssel, Berlin und Paris Bedingungen diktiert werden, werden sie ihre Stimmen denjenigen Parteien geben, die ihre nationale Souveränität gegen die EU und den IWF verteidigen wollen. Dass vor kurzem ein Holländer auf offener Straße von Griechen zusammengeschlagen wurde, weil man dachte, er wäre ein Deutscher, würde normalerweise nicht über die Lokalspalte der heimischen Presse hinausdringen, sollte aber heutzutage den großen Strategen in Brüssel zu denken geben: Geht man nicht eben daran, etwas zu schaffen, was man eigentlich vermeiden will, nämlich Hass zwischen den Völkern?

In der antinationalen Vision der traditionellen politischen Kräfte sind der Euro und die EU zu so etwas wie einer Fischreuse geworden, worin man nur in einer Richtung schwimmen kann; wenn ein Fisch probiert, aus ihr wieder herauszukommen und dabei womöglich die Reuse aufreißen möchte, dann bricht Panik aus und es kommt zur Forderung nach einer stärkeren Reuse. Es wäre doch viel besser für die EU, aufs Neue ein Projekt der grundlegenden demokratischen Zusammenarbeit zu starten: Ein mehr oder weniger an Integration wäre dann möglich, und zwar je nach dem Entwicklungsstand eines Landes, und wenn eine demokratische Mehrheit eines Landes es möchte, so muss auch ein Ausstieg aus der Euro-Zone möglich sein.

Der Euro muss also ein rationales wirtschaftliches Projekt sein, und kein antinationalistisches politisches Projekt. Das Ausscheiden von Griechenland und möglicherweise auch von anderen Ländern aus der Euro-Zone darf dabei kein Tabu sein.

Philip Claeys ist Abgeordneter der Europaparlaments für den Vlaams Belang.

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