Wie erringt man höchste, positive Aufmerksamkeit? Genau! Mit einer jüdischen Herkunft und Gutmenschentum. Genau das dachte sich wohl die Historikerin Marie Sophie Hingst und erfand flugs eine jüdische Familiengeschichte und “Refugees-Welcome”-Engagement, wie der Spiegel berichtet.
Bilderbuchkarriere
22 “Pages of Testimony”, sogenannte Opferbögen, soll sie in Yad Vashem eingereicht haben, die alle belegen, dass der Großteil ihrer Familie im Holocaust umgekommen ist. Leider war alles gefälscht. Hingst ist Tochter einer evangelischen Familie. Die mag zwar im Zweiten Weltkrieg auch gelitten haben, aber in der Hierarchie der Opfer zählt nur das Leid, das Juden durchmachen mussten. Deutsche Opfer erregen kein Mitleid.
Mit einer rührseligen, von großen Anklagen gegen Deutschland getragenen Lebensgeschichte fütterte die in Dublin lebende Bloggerin ihren Blog “Read on my dear, read on”. 2017 war sie von den “Goldenen Bloggern” zur “Bloggerin des Jahres” gewählt worden. 2018 erhielt sie für einen Aufsatz den “Future of Europe”-Preis der Financial Times.
Relotius lässt grüßen
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatte erst vor weniger als einem halbem Jahr zugeben müssen, dass ein hauseigener, ebenfalls preisgekrönter Journalist, Claas Relotius, erfundene Reportagen geschrieben hat. Der Spiegel machte nun den Betrug von Hingst öffentlich.
Nichts von alledem ist nämlich wahr: Sie soll doch kein Krankenhaus in einem Slum in Neu-Delhi gegründet und dort Sexualberatungen für junge indische Männer angeboten haben. Ebenso soll sie, obwohl ganz systemkonforme Zeitgenossin, seit 2016 nicht in einer Arztpraxis syrische Flüchtlinge in Deutschland beraten. Darüber hatten die Zeit 2017 und Deutschlandfunk Nova 2018 berichtet. Die Zeit gibt inzwischen zu:
Wir haben den Beitrag überprüft und gehen davon aus, dass wir von der Autorin tatsächlich getäuscht wurden.
Keine Reue
Den Betrug bekannt gemacht hat die Berliner Historikerin Gabriele Bergner.
Und Hingst? Die rechtfertigt ihre erfundenen Geschichten gegenüber dem Spiegel sehr selbstbewusst mit der Inanspruchnahme eines “erheblichen Maßes an künstlerischer Freiheit”. Na, denn.