Die militärische Lage in der Ostukraine spitzt sich dramatisch zu: Russische Truppen stehen kurz vor einem entscheidenden Durchbruch bei Pokrowsk (Oblast Donezk). Sollte die Stadt fallen, wäre die letzte ukrainische Verteidigungslinie im Donbass durchbrochen – und der Weg in das weite Flachland des Oblast Dnipropetrowsk nahezu ungehindert offen.
Ein strategisches Bollwerk der Ukraine
Pokrowsk, eine Stadt mit rund 60.000 Einwohnern, liegt westlich von Donezk und gilt als eines der wichtigsten militärischen Logistikzentren der Ukraine. Die Stadt ist nicht nur ein Knotenpunkt für Straßen- und Eisenbahnverbindungen, sondern auch ein zentraler Punkt für Truppenbewegungen und Versorgungslinien der ukrainischen Streitkräfte. Zur Zeit wird die Stadt Pokrowsk bereits umkämpft, Russland versucht, sie südlich zu umgehen und einzukesseln. Oberst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie erklärt in einem Videobeitrag umfassend, warum ein Fall der Stadt nicht nur symbolisch, sondern auch operativ eine schwere Niederlage für die ukrainische Verteidigung bedeuten würde.
Die letzte von drei Verteidigungslinien
Die Ukraine hat seit dem Beginn des Konflikts im Jahr 2014 (lokaler Bürgerkrieg im Donbass noch ohne die direkte Beteiligung Russlands) eine gestaffelte Verteidigungsstrategie entwickelt, die aus drei Linien besteht. Diese wurden über Jahre hinweg ausgebaut, um russische Angriffe abzuwehren. Die erste Linie befand sich in der Nähe der ursprünglichen Frontlinie des Donbass-Konflikts und wurde bereits in den ersten Monaten der Invasion 2022 durchbrochen. Die zweite Linie umfasste schwer befestigte Schützengräben, Panzersperren und Verteidigungsstellungen, die teilweise während der ukrainischen Gegenoffensive 2023 zurückerobert worden sind. Russische Truppen haben jedoch in den letzten Monaten erheblichen Druck auf diese Linie ausgeübt und sie an mehreren Stellen durchbrochen. Pokrowsk stellt einen zentralen Bestandteil der dritten und damit letzten Verteidigungslinie dar, die für Reserve und Logistik überlebenswichtig ist. Reisner betont, dass ein russischer Durchbruch bei Pokrowsk einen massiven Rückzug der ukrainischen Streitkräfte nach sich ziehen könnte. Dahinter liegen kaum noch verteidigungsfähige Gebiete.
Geografische Faktoren begünstigen Russland
Dazu würde sich bei einem russischen Durchbruch auch geografisch eine katastrophale Situation für die Ukraine ergeben. Während der Donbass von hügeligem Terrain geprägt ist, beginnt westlich von Pokrowsk eine völlig andere Landschaft. Der Oblast Dnipropetrowsk ist gekennzeichnet durch weite Ebenen, große Agrarflächen und nur wenige natürliche Hindernisse. Im Gegensatz zu den hügeligen Gebieten des Donbass, wo Verteidiger erhöhte Positionen nutzen können, bietet das Flachland den ukrainischen Truppen kaum noch strategische Vorteile. Russische Truppen könnten schnell tief in das ukrainische Territorium vordringen, ohne sich durch befestigte Stellungen kämpfen zu müssen. Artillerie- und Drohnenangriffe könnten aus größerer Entfernung erfolgen, da es kaum natürliche Deckung gibt. Die ukrainische Armee wäre gezwungen, sich auf mobile Verteidigungstaktiken zu verlassen – eine Strategie, die jedoch stark von der Verfügbarkeit von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen abhängt, die zunehmend knapp werden.
Nächste Wochen könnten entscheidend sein
Aktuell versuchen russische Truppen, die Stadt von Südwesten zu umgehen, um die ukrainischen Verteidiger einzukesseln. Sollte es Russland gelingen, diese letzte Verteidigungslinie zu durchbrechen, könnte dies die Ukraine somit zwingen, große Gebiete aufzugeben und ihre Verteidigungslinien neu zu formieren. Ein mögliches Szenario, das Militärexperten inzwischen offen diskutieren, ist ein russischer Durchbruch bis zum Dnjepr, der die Ukraine in zwei Teile spalten würde. Während Kiew derweil auf neue Waffenlieferungen aus dem Westen hofft, nutzt Russland seine personellen und materiellen Vorteile, um die Front Stück für Stück nach Westen zu verschieben. Die kommenden Wochen könnten über den weiteren Verlauf des Krieges entscheiden – und darüber, ob die Ukraine in der Lage ist, die russische Offensive zu stoppen oder ob sie weiter in die Defensive gedrängt wird.