Unzensuriert hat unlängst über die Probleme rund um das Kinderbetreuungsgeld berichtet. Bis zu 30.000 Gerichtsverfahren gibt es jährlich. Nicht nur, dass auf nationaler Ebene zahlreiche Auflagen zu beachten sind, führt auch noch das Unionsrecht dazu, dass bei grenzüberschreitenden Sachverhalten die Überprüfung des Anspruchs auf Familienleistungen zu einer Mammutaufgabe wird. Ohne diesen bürokratischen Aufwand wären viele Eltern, aber auch Behörden glücklicher.
Auch Eltern im EWR-Raum haben Anspruch
Das Unionsrecht verpflichtet Österreich, Kinderbetreuungsgeld auch an Kinder zu bezahlen, die nicht in Österreich wohnhaft sind. Dies wird in den EU-Verordnungen 883/2004 und 987/2009 geregelt. Daher haben auch EWR-Bürger und Schweizer Angehörige Anspruch auf österreichische Familienleistungen, wenn sie die Regeln erfüllen. Dies ist alles noch komplizierter, da die Krankenkasse eventuelle Ansprüche auf andere Leistungen des Wohnstaats des Kindes überprüfen muss. Außerdem muss geprüft werden, welcher Staat vorrangig seine Familienleistungen bezahlen muss.
Streitfälle mit der Bundesrepublik Deutschland
Und allein schon bei Sachverhalten, bei denen die Regeln in der Bundesrepublik Deutschland beachtet werden müssen, wird offenbar, wie mühsam das EU-Recht ist. So wie diesseits des Inns gilt auch jenseits, dass nur jene Person einen Anspruch auf das dortige Elterngeld hat (früher Erziehungsgeld), deren Erwerbstätigkeit aufgrund der Kindererziehung eingeschränkt wird oder komplett ruht. Der andere Elternteil, der voll im Erwerbsleben bleibt, hat in der Regel keinen Anspruch auf deutsches Elterngeld oder österreichisches Kinderbetreuungsgeld. Und wie kompliziert das System werden kann, wird an folgenden gerichtlichen Entscheidungen deutlich.
SPÖ-Wimmer fragte nach EuGH-Urteilen
Die SPÖ-Abgeordnete Petra Wimmer wollte in einer Anfrage wissen, wie viele Verfahren es beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Sachen Kinderbetreuungsgeld im Zeitraum 2017 bis 2022 gegeben habe und um welche Sachverhalte es ging. Die zuständige Ministerin Alma Zadić (Grüne) ließ ausrichten, dass dies nicht in den Wirkungsbereich des Justizministeriums falle, daher keine Daten vorliegen.
Dann muss eben unzensuriert die SPÖ aufklären. Folgende Urteile gab es im Zeitraum 2017 bis 2022: Nämlich nur eines. Konkret das Urteil C-32/18 Moser. Viele Jahre zuvor gab es allerdings mit C-543/03 die verbundene Rechtssache Dodl und Oberhollenzer, C‑507/06 Klöppel und C‑516/09 Borger, die ebenfalls mit dem Kinderbetreuungsgeld zu tun hatten.
Ärger mit Tiroler Gebietskrankenkasse
Diesbezüglich muss angemerkt werden, dass der EuGH bei Familienleistungen nur bei grenzüberschreitenden Sachverhalten angerufen werden kann. In allen zuvor angeführten Verfahren gab es einen Rechtstreit mit der Tiroler Gebietskrankenkasse, die Leistungen nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetzes nicht zahlen wollte. Leser, die sich explizit für juristische Entscheidungen rund um Kinderbetreuungsleistungen interessieren, erhalten in diesem Beitrag und in einigen Fortsetzungen eine Zusammenfassung wesentlicher Verfahren.
Die Fälle Dodl und Oberhollenzer
Christine Dodl und Petra Oberhollenzer waren beide österreichische Staatsangehörige, die rund um das Jahr 2002 in Österreich arbeiteten, aber in der Bundesrepublik Deutschland wohnten. Die Väter der Kinder waren bundesdeutsche Staatsangehörige und dort erwerbstätig. Die Väter erhielten beide das deutsche Kindergeld, das gleichartig zur österreichischen Familienbeihilfe ist. Allerdings erhielten sie nicht das damalige Erziehungsgeld, das gleichartig zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld war, weil beide Männer voll erwerbstätig waren.
Frau Dodl, die nach Ende des Beschäftigungsverbotes (Mutterschutz) nur wenige Monate in Karenz war, überschritt außerdem die Einkommensgrenze, die das deutsche Recht beim Erziehungsgeld vorgesehen hatte, um fast 9.000 Euro. Die deutschen Behörden teilten Frau Dodl mit, dass sie für das zweite Lebensjahr des Kindes das Erziehungsgeld versagen werden.
Deutschland schiebt Verantwortung nach Österreich ab
Und überhaupt meinte Deutschland, dass bereits seit der Geburt des Kindes Österreich für Zahlungen zuständig sei. Was im Übrigen nicht stimmt, da die Kinder in der Bundesrepublik wohnhaft waren, die Väter dort erwerbstätig waren, womit in jedem Fall die Bundesrepublik Deutschland vorrangig zuständig war. In einem Vergleichsangebot wurde schließlich vereinbart, dass vorläufig Erziehungsgeld für das erste Lebensjahr des Kindes ab dem Beginn der Karenz bezahlt wird, womit die Mutter monatlich 40 Euro erhalten hatte.
Frau Oberhollenzers Fall unterscheidet sich nur in einem Punkt von Frau Dodls Problem. Erstere war nach Ende des Mutterschutzes bis zum zweiten Geburtstag des Kindes in Karenz und ging in diesem Zeitraum keiner Beschäftigung nach. Erst im Anschluss war sie bei ihrem alten österreichischen Arbeitgeber wieder beschäftigt – in Teilzeit. Und auch in diesem Fall bezog der Vater das deutsche Kindergeld, aber aufgrund seiner Erwerbstätigkeit kein Erziehungsgeld. Für das erste Lebensjahr des Kindes wurde das Erziehungsgeld versagt, für das zweite Lebensjahr allerdings gewährt.
Österreich schiebt Verantwortung nach Deutschland zurück
Die österreichischen Behörden (Tiroler Gebietskrankenkasse) jedenfalls meinten, dass Deutschland vorrangig zahlen müsse. Außerdem wurde ein genereller Anspruch auf das Kinderbetreuungsgeld ausgeschlossen, da die beiden Frauen in Österreich nicht mehr ihre Arbeitnehmereigenschaft gehabt hätten. Mutterschutz und Karenz seien keine Erwerbstätigkeit. Die Anträge auf Kinderbetreuungsgeld wurden abgelehnt.
Auch EU-Kommission im Verfahren uneinig
Die beiden Frauen klagten. Das Landesgericht Innsbruck (Erstgericht) wies die Klagen ab. Das Oberlandesgericht Innsbruck als Berufungsgericht befragte den EuGH. Dort vertraten Österreich und Deutschland unterschiedliche Meinungen. Und auch die EU-Kommission war sich in der Rechtsansicht uneinig. Die anfangs vertretene Meinung, welcher Staat zuständig sein muss, wurde während des Verfahrens vor dem EuGH durch eine gänzlich andere Meinung ersetzt. Die EuGH-Richter betonten letztendlich, dass die Bundesrepublik Deutschland vorrangig zuständig sein müsste.
Nach diesem EuGH-Urteil wurden vom Oberlandesgericht Innsbruck die Entscheidungen des Erstgerichts aufgehoben und die beiden Fälle wieder an den Start zurückgewiesen. Und dieses Mal verurteilte das Landesgericht Innsbruck die Tiroler Gebietskrankenkasse zur Zahlung des Kinderbetreuungsgeldes. Zwar sei Deutschland vorrangig zuständig, aber auch Österreich muss nachrangig Geld bezahlen. Dies wiederum wollte die Tiroler Gebietskrankenkasse nicht akzeptieren und ging bis zum Obersten Gerichtshof.
Vier Jahre lang wurde gestritten
Dennoch blieb es dabei, dass Frau Dodl das Kinderbetreuungsgeld in voller Höhe zusteht, da ihr von Deutschland aufgrund ihres hohen Einkommens kein Erziehungsgeld gewährt wurde. Frau Oberhollenzer habe vorrangig einen Anspruch auf das deutsche Kindergeld. Da dieses niedriger ist als die österreichische Leistung, muss Österreich eine Differenzzahlung überweisen. Und es wurde betont, dass beide Frauen auch in Zeiten von Mutterschutz und Karenz als in Österreich „beschäftigt“ anzusehen waren.
Laut EU-Recht gilt nämlich eine Person als Arbeitnehmer auch dann, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko der sozialen Sicherheit versichert ist. Die Frauen waren in den Zeiten der Kindererziehung zwar nicht bei den Sozialversicherungen beitragspflichtig, aber dennoch entweder krankenversichert oder pensionsversichert (oder beides). Letztendlich wurde über vier Jahre prozessiert.
Sinnlose EU-Gesetze ändern
Der Wortlaut der damaligen EU-Verordnungen 1408/71 sowie 574/72 war schlecht formuliert, was zu unterschiedlichen Auslegungen geführt hat. Die aktuellen Verordnungen 883/2004 und 987/2009 sind kaum besser. Am besten wäre es, wenn Familienleistungen in diesen Verordnungen nicht geregelt werden und jeder Staat nur für jene Kinder zuständig ist, die in diesem Staat auch wohnen.
Unzensuriert wird sich in weiteren Beiträgen noch anderen Urteilen widmen.